
von Sarah Böger
Während die Corona-Pandemie weite Teile des gesellschaftlichen Lebens in Deutschland lahmgelegt hat, scheint auch der öffentliche Diskurs nur noch dieses eine Thema zu kennen.
Nur einen Monat nach dem letzten rechtsterroristischen Anschlag in Deutschland am 19.02.2020 in Hanau, verebbt die Aufarbeitung und der Diskurs um anti-muslimischen und andere Rassismen in der deutschen Medienöffentlichkeit wieder. An diesem Tag erschoss ein deutscher Mensch, neun muslimisch gelesene Menschen in einer Shishabar und tötete anschließend sich und seine Mutter. Geschäfte, Schulen, Kindergärten, Restaurants waren oder sind seit mehreren Wochen geschlossen, aber Rassismus macht keine Pause und wird dennoch nicht so klar und deutlich als die Gefahr gesehen, die er eigentlich darstellt.
Nach dem Shutdown der Landesgrenzen im März riefen Landwirte nach Unterstützung bei der Ernte, zum Beispiel von dem bei den Deutschen sehr beliebten Frühlingsgemüse, dem Spargel. Wo sonst Menschen aus Osteuropa zur Ernte einreisten, wussten Bauern nicht mehr, wie sie die Ernte rechtzeitig von den Feldern holen sollten. Wer sollte nun die schlecht bezahlte Arbeit machen? Obwohl es natürlich genug Arbeitlose gebe, so wollten doch nicht genug Menschen in Deutschland die harte körperliche Arbeit für wenig Geld machen. Schnell wurden Anfang April dennoch die Grenzen für zehntausende Erntehelfer aus Osteuropa wieder geöffnet und Flüge organisiert. Die pandemiebedingten Arbeitsschutzregeln wurden dabei nur teilweise und nicht ausreichend umgesetzt – in einem Land in dem die Maßnahmen sonst sehr gut angenommen und befolgt wurden. Nachdem ein 57-jähriger rumänischer Erntehelfer tot durch Corona aufgefunden wurde, wird dies auch etwas mehr öffentlich diskutiert. Doch eines ist klar: das deutsche Landwirtschaftssystem basiert seit langem auf billiger Arbeit und bezieht diese unter problematischen Arbeitsbedingungen vor allem aus dem Ausland.
Auch für die Menschen, die in Deutschland Asyl gesucht haben, herrschen nicht die gleichen Bedingungen wie für die Mehrheitsgesellschaft. Viele von Ihnen sind auf engem Raum in Mehrbettzimmern untergebracht. Anfangs wurden die Informationen rund um die Maßnahmen gegen Corona vor allem auf Deutsch verbreitet, was Verunsicherung unter nicht-deutschsprachigen Menschen sorgt. Inzwischen gibt es sie zum Teil auf Regierungsseiten auch auf Englisch, nicht aber zum Beispiel auf Arabisch. Zudem verbreitet sich das Virus schneller in Geflüchtetenunterkünften, die dann zum Teil komplett inklusive aller Bewohner*innen unter Quarantäne gestellt werden – was sonst nur kontrolliert für alle tatsächlichen Kontaktpersonen gilt.
Der Virus ist zudem besonders gefährlich für die Menschen, die in Lagern wie Moria unter schlechten hygienischen Bedingungen und Platzmangel mit geringer medizinischer Versorgung auf die Möglichkeit des Asyls in Europa seit langem warten. Solidaritätsbekundungen gibt es auch von Gruppen in Deutschland. Die Bundesregierung reagierte bisher darauf, indem sie mindestens 350 unbegleitete geflüchtete Minderjährige aufnehmen will. In meiner Heimatstadt Göttingen sollen davon 7 Jugendliche leben – nichts im Vergleich zum tatsächlichen Bedarf und den lokalen Möglichkeiten, so lokale Initiativen für Geflüchtete vor Ort, die am 30. April unter Einhaltung der Kontaktbeschränkungen für die Evakuierung der Lager an der EU-Außengrenzen vorm städtischen Rathaus demonstrierten.

Bild von dem Protest, das am 30. April 2020 in Göttingen stattfand. Foto: Links Unten Göttingen/Flickr.
Nachdem auch in Deutschland seit mehreren Jahren am Gesundheitssystem gespart wurde, Krankhäuser unternehmerisch umstrukturiert wurden und das Pflegepersonal über furchtbare Arbeitsbedingungen und schlechte Bezahlung klagt, sind sie plötzlich die Held*innen der Nation und werden als #systemrelevant mit fortgeführter Kinderbetreuung und Beifall aus den Fenstern zum Weiterarbeiten motiviert. Plötzlich sind sie wichtig und verdienen Anerkennung. Und nun werden sogar geflüchtete Menschen mit ihren Arbeitserfahrungen anerkannt und können auch in Deutschland ihren Beruf ausüben. Die meisten ausländischen Ausbildungen, Lehren und Studiumsabschlüsse reichen hierzulande nicht aus um entsprechend der Arbeitserfahrung und Qualifikation im erlernten Beruf auf gleichem Niveau weiterarbeiten zu können. Doch in der sogenannten Corona-Krise werden auch hier Ausnahmen gemacht, wenn es (deutsche) Leben retten kann.
Es gibt Menschen, die als #systemrelevant gelten und die geschützt werden. Und es gibt Menschen, die angefeindet werden oder sich fragen müssen, ob Deutschland ein sicheres Land für sie und für ihre Kinder sei.
Es kann jetzt schon festgestellt werden, dass die Corona-Maßnahmen Ungleichheiten im Land verstärken – vor allem für Frauen*, für Alleinerziehende, für Menschen mit geringem Einkommen. Doch welche Differenzen trennen die Rechte und Privilegien von Deutschen und Nicht-Deutschen und von weißen und nicht-weißen Menschen? Um außerhalb der rassismuskritischen Kreise darüber zu diskutieren, inwieweit die Ungleichheiten auch entlang rassifizierenden Trennungslinien verstärkt werden, müsste die deutsche Gesellschaft zunächst eines ihrer größten Probleme als solches wahrnehmen: den im Denken, Handeln und den gesellschaftlichen Strukturen verankerten Rassismus der merkmalsbezogene Ungleichheiten überhaupt erst ermöglicht.
Der Rassismus, der ebenso ermöglicht, dass Menschen beim entspannten Zusammensein an dem Ort, an dem sie sich wohlfühlen am 19.Februar erschossen wurden – nach vielen anderen, die aufgrund von Rassismus heute nicht mehr leben.
Der Rassismus, der ermöglicht, dass innerhalb von wenigen Tagen zuvor Undenkbares allein zum Schutz von Menschenleben beschlossen wird, während jahrhundertelang Vergleichbares für andere Menschen nicht geschah: Das Innehalten von Wirtschaft und Konsum für die Gesundheit und den Erhalt des Lebens von Bürger*innen.
Doch wessen Leben ist so erhaltenswert, dass Wirtschaftsverluste dafür in Kauf genommen werden? Wenn nun Milliarden Euros zur Verfügung stehen um etliche Unternehmen zu retten, wo sind die Millionen, die die Leben der Menschen auf der Flucht schützen können? Wo ist die konsequente Besorgnis über die Gesundheit der Menschen, die die Versorgungskette am schlechtesten bezahlt, zum Beispiel bei der Ernte, aufrecht erhalten? Und wie groß muss die Ungleichheit zwischen “Deutschen” und “Nicht-Deutschen” noch werden, bevor sie als lebensgefährlich gesehen wird und diese gesellschaftliche Produktion zum Innehalten zwingt?
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Leseempfehlung: Stellungnahme von Yasemin Karakaşoğlu und Paul Mecheril, Vorsitzende des Rats für Migration zu Sars-CoV-2 und die (un)gleiche Vulnerabilität von Menschen
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Sarah Böger lebt zur Zeit in Deutschland und ist dort geboren. Sie* arbeitet im Bereich der Antidiskriminierung, der politischen Bildung und seit zwei Jahren als Mama eines tollen kleinen Menschen. Sie* studierte Medien- und Kulturwissenschaften und Global Studies.
Dieser Text ist auch auf Bulgarisch verfügbar. / Titelbild: Unsplash/Cindy Tang.